DER ADONISPASTOR oder Pfarrer sind auch nur Menschen

 

 

LESEPROBE

 

Hauptpfarrer in Obermeislingen im Siegerland, großer Gott! Wenn ihm das einer vor 15 Jahren gesagt hätte, hätte er zumindest schallendes Gelächter geerntet, wenn nicht gar Schlimmeres. Er, der er hier im „ miefigen“ Bergland geboren wurde, den die engen Täler und religiös überkandidelten Bewohner einengten und der Zeit seines Lebens nie wieder etwas mit seiner Herkunft zu tun haben wollte, weder mit dem Land noch mit seinen Bewohnern, geschweige denn mit dem christlichen Glauben in all seinen hier vertretenen Facetten. Er, Henner Bernshausen, musste Pfarrer werden und in Obermeislingen die erste Pfarrstelle antreten. Sein Dienstherr hatte ihn zu sich bestellt, ihm den Arm väterlich um die Schulter gelegt und ihm zuerst Honig ums Maul geschmiert (…)

 

Der Rest des Gespräches gestaltete sich mehr wie ein „Siegerland-Quiz“ und mündete in dem schicksalsträchtigen Satz: „Mein lieber Henner, (Kunstpause) sie wissen ja, dass wir leider gezwungen sind, ihre halbe Pfarrstelle in Düsseldorf zu streichen. Aufgrund ihrer großartigen Referenzen habe ich mich persönlich ein bisschen umgehört und freue mich, Ihnen ein phantastisches Angebot machen zu können: Eine volle Pfarrstelle im Siegerland – Obermeislingen. Sie können nahtlos von einer Gemeinde zur anderen wechseln. Und da Sie ja sozusagen ein Einheimischer sind, wird es auch keiner großen Eingewöhnungsphase bedürfen, um mit dem dortigen Menschenschlag vertraut zu werden. – Eine phantastische Lösung! Meinen Sie nicht auch, mein Lieber?“

Klar, ihm war die Kinnlade runtergeklappt, der Verstand stehen geblieben, die Nackenhaare hatten sich gesträubt und die Zehennägel hatten sich in seinen Birkenstockclogs aufgerollt. Aber sonst war natürlich alles in bester Ordnung! Vielen Dank Chef!(…)

 

Henner Bernshausen hatte also ein Mal tief ein- und ausgeatmet, den Mund wieder zugeklappt und einen Augenblick gewartet, bis sich seine Fußnägel wieder entrollten und die Nackenhaare anlegten. Dann hatte er einen bedeutungsschweren Blick aufgesetzt, irgend etwas in der Art gesagt, dass er sich sowohl des in seine Fähigkeiten gesetzten großen Vertrauens, ebenso wie der großen Verantwortung, die ihm übertragen werden solle, bewusst sei und er verstehe, dass er wahrscheinlich die besten Voraussetzungen mitbringe, um die Gemeinde Obermeislingen als geistlicher Hirte zu führen.

Während dieser rhetorisch perfekten Erwiderung ging das seelsorgerliche Hirtenlächeln des „Boss“ in ein breites Grinsen über, und schlagartig verwandelte er sich vor Henners Augen in eine überdimensionale Schlange, die ihr Maul weit aufgerissen hatte um ihn, das erstarrte Kaninchen, zu verschlingen. Schnell schüttelte Henner den Kopf, um diesen Spuk zu vertreiben, wurde aber das Gefühl nicht los, dass dieses Bild verdammt realistische Züge hatte(….)

 

Rocky war bereits um die nächste Wegbiegung verschwunden, als Svenja sein fröhliches Bellen hörte und beinahe zeitgleich ein lautes „Scheiße“ und ein Rutsch- und Aufprallgeräusch vernahm, dass sie Böses ahnen ließ. Sie spurtete also die nächsten Meter um eine Felsnase und sah als erstes ein Fahrrad vor einem Baum liegen. Als sie über den Abhang blickte, sah sie einen Fahrradfahrer wenige Meter tiefer auf dem Waldboden liegen. „Mist! Rocky! Was ist passiert?“ fragte Svenja den Hund, als sie sich über den Gestürzten beugte. Svenja überprüfte sofort fachkundig Atem und Puls, alles im Normalbereich. Svenja nahm dem Mann vorsichtig die Brille ab. Sanft klatschte sie ihm auf die Wangen und versuchte ihn zu wecken. „Hallo, aufwachen! Na komm schon Junge, komm zu Dir!“ Es dauerte ein Weilchen, dann begannen die Lider zu flattern und die Augen blickten Svenja vorwurfsvoll an. Und was für Augen das waren. Svenja wusste schlagartig, wen sie da vor sich hatte. Es war Henner Bernshausen und er war zwar noch ein wenig benommen aber offensichtlich schon recht wütend.(…)

 

„Ganz ruhig, Herr Pfarrer, ich fürchte, durch den Sturz hat sich bei Ihnen der eine oder andere Wirbel verschoben, und das drückt irgendwo auf einen Nerv.“ „ Jetzt hören Sie doch endlich mit Ihrem Herr Pfarrer auf, und helfen Sie mir hoch!“ „Zu Befehl, Herr Henner!“ kam es gut gelaunt von Svenja. „Toll, ganz toll Frau Svenja, vielen Dank für Ihre mitfühlende Hilfe!“ Ich weiß gar nicht, was sie haben, Ich helfe Ihnen doch. Sie waren es doch, der meine Hilfe abgelehnt hat!“ „Ja, ja schon gut, jetzt lasse ich mir ja helfen! Ich komme mir vor wie ein alter Mann!“  Svenja lachte und half ihm vorsichtig mit steifem Rücken aufzustehen.(…)

 

Svenja war hinter ihn getreten und legte ihre Hände auf sein Hinterteil, um mit den Daumen rechts und links von der Wirbelsäule entlang zu fahren und die Blockaden der einzelnen Wirbel aufzuspüren. Sogleich verkrampfte sich jeder einzelne Muskel in Henner’s Körper und Svenja meinte: „Und wenn Sie sich jetzt noch dazu entschließen könnten, nicht mit den Zähnen zu knirschen und sich zu entspannen, dann würde das meine Arbeit enorm erleichtern.“ Eine Hand ließ sie beschwichtigend zwischen Henners Schulterblättern liegen und trat an seine Seite, um ihn ansehen zu können. „Ich will ihnen wirklich nur helfen! This is no indecent proposal, Sir! (Das ist kein unmoralisches Angebot, mein Herr!) O.K.? Ich verspreche auch, keine dummen Bemerkungen mehr zu machen!“ Sie sah ihn so bittend und bar jeglicher Ironie an, dass er unweigerlich lächeln musste. „Na gut, wenn Sie mich so lieb bitten. Tut mir leid, dass ich so kindische Reaktionen habe. Aber irgendwie schaffen Sie es immer wieder, mich aus dem Gleichgewicht zu bringen.“ „ Ich gelobe Besserung.“ Svenja lächelte ihn offen an und sie war ihm so nahe, dass er grüne und goldene Funken in ihren Augen ausmachen konnte.

 

Svenjas Hände lagen locker auf Henner’s Rücken und glitten sanft sein Rückgrat hinauf. Ihre Stimme hatte einen völlig ungewohnt sanften, beinahe zärtlichen Klang und gab ihre Anweisungen weiter, als würde sie Mantras sprechen. Vollkommen unbewusst entspannte sich Henner immer mehr. Er schloss die Augen, atmete tief und gleichmäßig ein und aus und fühlte ihre körperliche Gegenwart so warm und nah, als wenn sie sich an seinen Rücken anlehnen würde; dabei stand sie gut einen halben Meter hinter ihm.(…)

 

Ihre Hände an seinem Gesicht fühlten sich wie Vogelflügel an, sanft und fedrig und gleichzeitig warm und pulsierend, ihre Stimme zelebrierte das Anweisungs-Mantra und entführte ihn in eine bessere Welt. Wenigstens kam ihm das so vor. Er sah seine Umgebung nur noch in sanftem Nebel und wäre er ein Kater gewesen, er hätte unweigerlich zu schnurren angefangen. So ungefähr hatte er sich beim Lesen die Nebel von Avalon vorgestellt, einhüllend, verwandelnd, magisch. Ja, Magie lag in der Luft. Wäre er ein abergläubischer Mann des Mittelalters gewesen, er hätte glatt geglaubt, dass Svenja eine Hexe sei und ihn verzaubert hatte.